Der Indifferenzpunkt

Eine Lage heißt indifferent, wenn sich die Schaukel nach keiner Seite neigt. Die Stimme ist da indifferent, wo sie weder richtig tief, hoch schon gar nicht, nun, eben richtig bequem ist. Wenn Sie die Stimme ein wenig „durchkauen“ erhalten Sie ein Intervall von ungefähr einer Quinte, das ist sie, die Indifferenzlage, oder auch mittlere Sprechlage genannt.
Die Ehre, die „Kaustimme“ für die Stimmtherapie entdeckt zu haben gebührt einem Mediziner, ansonsten darf man annehmen, dass das barocke „warum rülpset und farzet ihr nicht,-hat euch die Atzung nicht geschmecket?“ auch Kautöne einschloss. Einige Autoren beschreiben die Kaustimme als „eine Terz tiefer“ als die Indifferenzlage“, das ist dann wohl eher ein „Brummkauen“. „Sprechlage“ ist in diesem Zusammenhang ein zweifelhafter Begriff. Sobald Sprache ins Spiel kommt, kommen Sprach- und Sprechgewohnheiten ins Spiel; und da überlagert ein ganzes Bündel von Konditionierungen die natürliche persönliche Veranlageung.
Diese Sprechquinte verdanken wir einer Konferenz, die 1898 die „Verkehrsnorm der Deutschen Hochlautung“ , (das ist das, was ein akzentfreier deutsches Sprecher beherrschen sollte) endgültig festgeschrieben hat:
Mehr oder weniger norddeutscher Lautstand und süddeutsche Längen, und – eine relativ modulationsarme Intonation. Nur im Ausnahmefall, z.B. beim Rufen oder Schreien darf die deutsche Sprechstimme über diese Quinte hinaus, und dann auch nur mit voller Stimmbandfunktion.
Ganz anders unsere europäischen Nachbarn, die eine erweiterte Indifferentlage haben. –Hätte die Tagung sich damals am Wienerischen oder am Stuttgarter Schwäbisch orientiert, hätten wir die auch: ein englisches „Oh my god“ kann in der Kopfstimme beginnen und eine Oktav tiefer in der Bruststimme landen, ein französisches „mais oui“ kann in der Brustlage beginnen und regelrecht in die Septime jodeln, ein italienisches „ è incredibile“ kann sich auf der Silbe „di“ zur Dezime erheben. Darf man vermuten, dass dieses „Durchmischen“ der Sprechregister, diese „voix mixte“, eine exzellente Voraussetzung für den Gesang ist? Man darf. (Der peruanische Startenor Florez sagt: der Sänger lebt von der Sprache, die er spricht. Was zu der frivolen Bemerkung Anlass geben könnte , dass die beste Sprache um italienischen Belcanto zu lernen, das Spanische ist...)
Und so können Sie das auch als Deutscher: stellen Sie sich vor, dass sie bei der Kauerei feststellen, dass das fabelhaft schmeckt, dann werden Sie das mit einer Tonschleife von beinahe einer Oktav auf den Laut M kommentieren. Und ohne Bruch in der Stimme. Falls Sie das üben wollen: selbst wenn Sie beim Aufgang ein wenig drücken sollten, den völlig lockeren „Abgang“ sollten Sie aufmerksam wahrnehmen.
Aber versuchen Sie nicht, das auch in der gesprochenen deutschen Hochsprache zu realisieren, Sie klingen sonst unweigerlich tuntig. Für den Dialekt gilt das natürlich nicht, u.a im Sächsischen und im Friesischen hört man oft extreme Falsetttöne.
Aber der Punkt, auf den ich eigentlich eingehen möchte kommt jetzt.
Die „mittlere Sprechlage“ der erwachsenen Frau soll bei 260 Hz (Schwingungen pro Sekunde), die des Mannes bei 130 liegen, und die Indifferenzlage logischerweise da irgendwie drumrum. (Es werden auch Werte 110 zu 220 angegeben, was dann noch tiefer liegt.) Man müsste natürlich eigentlich von „gemittelter mittlerer Lage“ sprechen, denn es gibt ja nun zweifelsfrei höhere und tiefere Stimmen. Wenn wir zunächst von einem Sprechumfang von einer Quint ausgehen, reicht die Sprechlage des Mannes also ungefähr von ca. 110 Hz bis 165 Hz, –das wäre genau eine Quinte, und bei der Frau von 220 Hz bis 330 Hz.
(Ich sagte „soll“ liegen, aus zwei Gründen: erstens widersprechen diese runden Zahlen, die den Unterschied zwischen Männer- und Frauenstimmen mit genau einer Oktav angeben, völlig der Realität. Und zweitens gibt es kaum ungeschulte Stimmen, die so tief sprechen, ein Sprechen in dieser Lage wird als „tiefe Brustlage“ eingestuft.
Für die „mittlere Sprechlage“, in der Maria Callas ihre legendären Unterrichtsstunden an der Juillard School gab, was durch das intensive Sprechen im Raum einer „gehobenen“ Sprechlage entspräche, habe zwischen 320 und 480 Hz gemessen,- )
Und für die gesungene Frauenstimme sind 220 Hz ganz eindeutig ein tiefer Brustton ( das ist genau die Oktav unter dem Kammerton A) und 120 Hz für den Mann ebenfalls. Ungeschulte Stimmen haben sogar Mühe Töne in dieser Lage überhaupt qualitätsvoll zu erzeugen. Die „Indifferenzlage“ beim Gesang liegt also offenbar ganz deutlich höher.
Testen Sie: wenn Sie als Mann ein „mittleres f“ singen, ist das bequeme Mittellage, als Sprechlage klingt das schon sehr unbequem, -außer Sie sind Tenor und haben das Bedürfnis, das ständig zu demonstrieren.
Also lassen Sie sich nicht durch irgendwelche Hertzzahlen beeindrucken.
Die „Indifferenzlage“ ist für die Stimme genau das, was das „Schwa“ für die Sprache ist:


Das Ding ohne Eigenschaften


PS: gerade lese ich in einem Artikel, dass der „deutsche Murmellaut“, der in Vor- und Nachsilben als E geschrieben wird, im angloamerikanischen Raum Schwa heißt. Das ist richtig, allerdings ist man dort in den einschlägigen Lexika der Ansicht, dass das in Deutschland so heißt, und letztlich ist es einfach hebräisch. Siehe: Das unbekannte Wesen.